
“Ich wusste nicht, dass ich Afghanistan so sehr liebe“
August 2021 – die Taliban nehmen Kabul ein und übernehmen die Macht in Afghanistan. Die Taliban versprechen eine Amnestie, bei der etwa Journalist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen oder Sicherheitskräfte nicht verfolgt werden. Ein Versprechen, das bereits kurze Zeit später gebrochen werden sollte. Die Herrschaft der Taliban in den späten 1990er Jahren war geprägt von schweren Menschenrechts- insbesondere Frauenrechtsverletzungen. Zudem hatte sich auch die humanitäre Lage zunehmend zugespitzt – auch für diese Machtperiode der Taliban ließ sich kaum eine Verbesserung erhoffen. Tausende Menschen fliehen.
Auch Husna Jalal verließ kurz nach der Machtübernahme das Land und ging in die Niederlande. Husna ist eine 27 jährige Frauenrechtsaktivistin aus Afghanistan. Sie studierte Soziologie und Politikwissenschaften in Indien. Husna ist die Tochter von Massouda Jalal, die sich als erste Frau in Afghanistan als Präsidentschaftskandidatin aufstellen ließ, und Faizullah Jalal, einem Rechts- und Politikwissenschaften-Professor an der Universität Kabul. Beide Eltern setzen sich für Menschen-,Frauenrechte und Demokratie in Afghanistan ein und waren in verschiedenen Funktionen in der afghanischen Regierung in diesen Bereichen tätig. Ihre Tochter Husna führt deren Arbeit fort und erzählt sie uns in einem Interview, wie sie ihre eigene Initiative, das Young Afghan Women’s Movement, im Alter von 24 Jahren aufbaute.
Husna erzählt, dass sie sich schuldig gefühlt habe gegenüber allen anderen Personen, die 2021 nicht aus Afghanistan fliehen konnten. Sie erklärt, dass eine Ausreise oft nur privilegierten Menschen möglich war. Dieses Schuldgefühl sei einer der Gründe für ihren Entschluss gewesen, von Europa aus für die Menschen und besonders junge Frauen in Afghanistan aktiv zu werden. Schon bevor sie Afghanistan verlassen hatte, wollte sie eine Partei gründen. Diese sollte die Interessen und Stimmen vor allem junger, gebildeter, feministischer Menschen auf das politische Tapet bringen, denn in vielen grundlegenden Entscheidungen sei gerade der jungen Bevölkerung keine Möglichkeit geboten worden, sich zu beteiligen. Ihr Ziel war es, durch die Gründung der Partei das Wissen und die Fähigkeiten speziell junger, engagierter Frauen zu bündeln, um deren Vertretung in der politischen Landschaft Afghanistans zu verankern.
Ziel ist es, eine Community zu schaffen, in der sich die Frauen untereinander austauschen können und vielfältige Angebote geschaffen werden, um in verschiedenen Problemlagen Unterstützung zu bieten.
Dieser Plan wurde durch die Machtübernahme der Taliban jedoch durchkreuzt. Husna ließ sich von ihrem Vorhaben nach ihrer Flucht nicht abbringen: „Ich hatte die Idee, wenn wir diese Partei nicht physisch im Inneren des Landes haben können – wir leben jetzt in einem digitalen Zeitalter, wir könnten es digital machen, und so kam mir die Idee des Young Afghan Women’s Movement.“ Das Young Afghan Women’s Movement ist eine Online Plattform, die junge afghanische Frauen in und außerhalb Afghanistans vernetzt. Ziel ist es, eine Community zu schaffen, in der sich die Frauen untereinander austauschen können und vielfältige Angebote geschaffen werden, um in verschiedenen Problemlagen Unterstützung zu bieten. Zu Beginn gründete sie WhatsApp-Gruppen, tauschte sich mit den in Afghanistan verbliebenen Frauen aus und fragte, wie sie helfen konnte, um zu eruieren, wo die drängendsten Problemherde bestanden.
Husna erzählt von zwei Projekten, die aus diesem Austausch entstanden sind und an denen sie derzeit arbeitet. Zum Einen ist die Lage derzeit für viele Menschen im Land psychisch enorm belastend. Sie möchte daher ein Projekt schaffen, das Männern und Frauen eine Möglichkeit bietet, psychologische Unterstützung zu erhalten. Das stellt eine Herausforderung dar, denn vielen Menschen fällt es schwer, sich zu öffnen. Das Projekt soll dennoch dazu dienen, Menschen untereinander in Kontakt zu bringen, Solidarität und Gemeinschaft zu schaffen, einander Hoffnung zu spenden, aber auch Zugang zu professionellen Kräften eröffnen soll.
Ein weiteres Projekt bietet die Möglichkeit, Englischkurse zu besuchen, um auf das C2 Sprachniveau zu gelangen. Parallel dazu werden Verbindungen zu Universitäten im Ausland geschaffen, um den jungen Frauen mit den erforderlichen Englischkenntnissen Stipendien an den jeweiligen Partneruniversitäten zu vermitteln. Dieses Projekt adressiert vor allem den Umstand, dass Frauen in Afghanistan durch Verordnungen der Taliban der Besuch von Schulen und Universitäten verwehrt wurde. Solche und viele weitere Einzelinitiativen sollen dabei helfen, junge Frauen unter den gegebenen schwierigen Umständen zu vernetzen, zu unterstützen und vor allem zu empowern.
Das Netzwerk, über das das Projekt mittlerweile verfügt, ist stark gewachsen: „Wir sind in Kontakt mit mehr als 500 jungen Frauen, aber natürlich kennt jeder dieser Frauen eine Menge anderer Frauen.“ Husna erzählt, dass mit den beiden Projekten bis zu 5.000 junge Frauen erreicht werden können. Auch in den ländlichen Gebieten hat sie einige Kontakte, die selbst wiederum gut in ihren Regionen vernetzt sind. Obwohl Husna in erster Linie eine Frauenrechtsaktivistin ist, möchte sie auch gezielt junge Männer ansprechen: “Wir sollten auch nicht junge Männer vergessen, weil sie sind auch Opfer dieses Krieges, sie zahlen auch den Preis dieses Kriegs. Wenn wir einen sozialen Wandel in Afghanistan bewirken wollen, brauchen wir auch das Bündnis mit den Männern.“
Auf die Frage, ob Husna in ihrer Arbeit auch manchmal frustrierende Momente erlebt, entgegnet sie, dass das gerade in letzter Zeit häufiger der Fall war. Sie hat den Eindruck, dass die internationale Aufmerksamkeit und damit auch die finanzielle Unterstützung von NGOs nicht mehr bei Afghanistan liegt, da andere Konflikte, wie der Krieg gegen die Ukraine oder der Nahostkonflikt derzeit das Tagesgeschehen dominieren. „Ich verstehe, dass das sehr wichtig ist, aber ich möchte, dass die Menschen auch verstehen, dass Afghanistan genauso wichtig ist wie diese beiden Länder“, sagt sie.
Wir müssen uns für eine friedliche Welt einsetzen, in der alle Menschen in Frieden leben, ohne Angst vor jeglicher Bedrohung, ohne die Angst, dass ihnen etwas passiert. Also, arbeiten wir daran und tun wir es gemeinsam.
Trotz der schwierigen Lage bleibt sie unbeirrt in ihrem Vorhaben. Der regelmäßige Austausch mit den Menschen in Afghanistan motiviert sie dazu, weiterzumachen. Sie erinnert sich daran, wie sie selbst, obwohl aus einer bekannten und privilegierten Familie, Diskriminierung erlebt und sich die Frage gestellt hatte, wie es wohl dann sozial schlechter gestellten Menschen in Afghanistan ergeht. Diese Motivation wurde durch ihre Flucht aus ihrer Heimat zusätzlich verstärkt: „Als ich Afghanistan verlassen musste, fühlte ich mich so sehr mit dem Land verbunden, wie ich es noch nie zuvor in meinem Leben gefühlt habe. Ich wusste nicht, dass ich Afghanistan so sehr liebe“, erinnert sie sich. Auch das Engagement ihrer Eltern inspirierte sie dazu, ihr eigenes Narrativ zu schaffen und dieses aus einem Verantwortungsbewusstsein als Bürgerin ihres Landes in die Tat umzusetzen.
Sie fordert in unserem Interview junge Menschen dazu auf, auch aktiv zu werden. Am wichtigsten ist es, wie sie sagt, über dieses Thema immer und immer wieder zu sprechen, Politiker darauf aufmerksam zu machen und Druck auf politische Institutionen auszuüben: „Wenn ihr in irgendeiner Weise eure Stimme für die afghanischen Frauen oder für den Weltfrieden erheben könnt, tut es. Weil wir sind eine Welt. Es spielt keine Rolle, ob in Europa oder Zentralasien oder Südasien, wir müssen überall Frieden schaffen. Wenn an einem Ort kein Frieden herrscht, wird es immer die Gefahr geben, dass auch hier die Sicherheit gefährdet wird. Wir müssen uns für eine friedliche Welt einsetzen, in der alle Menschen in Frieden leben, ohne Angst vor jeglicher Bedrohung, ohne die Angst, dass ihnen etwas passiert. Also, arbeiten wir daran und tun wir es gemeinsam.“
Auf die Frage, was sie sich für ihr Land und die Frauen in Afghanistan erhofft, sagt sie: „Ich hoffe, dass die Welt versteht, was dort vor sich geht und es ein Gespräch mit dem gegenwärtigen Regime gibt. Die Mädchenschulen sollten so bald wie möglich geöffnet werden, denn es ist inakzeptabel, dass die Hälfte der Bevölkerung keinen Zugang zu Bildung und Gesundheit hat.“Sie selbst möchte eines Tages auch wieder nach Afghanistan zurückkehren. In der Zwischenzeit möchte sie ihre Energie weiterhin dafür nutzen, zu studieren und sich für die Rechte junger afghanischer Frauen einzusetzen.
Interview und Text: Victoria Rzihacek
Materialien und Workshops zu den Young Peacebuilders
Informationen über das „Young Afghan Women’s Movement“ findest du hier: https://www.youngafghanwomenmovement.com/our-work
Hier kannst du das Ausstellungs-Plakat von Husna Jalal in A3 als PDF herunterladen (z.B. für die Schule oder Klasse).
Du möchtest wissen wie du mit „Young Peacebuilders“ arbeiten kannst oder einen Workshop buchen? Wende dich an das Friedensbüro Salzburg: https://www.friedensbuero.at/workshops/
Unser Workshop-Angebot, das aus drei Teilen besteht, beschäftigt sich mit den Themen Frieden, Friedensarbeit, Möglichkeiten des Handelns und verschiedenen Ausdrucksformen und kann flexibel gebucht werden.
Friedensbüro Salzburg
Lasserstraße 30/3
5020 Salzburg
Tel.: +43 (0) 662/ 87 39 31
Email: office@friedensbuero.at
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