
„Wenn ständig gesagt wird, wie böse du bist, dann wirst du es auch.“
Im März macht sich ein Jugendlicher aus Wien Sorgen um seinen besten Freund. Er glaubt, dieser plant etwas Strafrechtliches, eine politische Gewalttat. Niemand weiß davon. Der Jugendliche wendet sich an Ahmad Mitaev, einen Jugendarbeiter, den er aus dem Jugendzentrum kennt, und vertraut sich ihm an: „Ich glaube, mein bester Freund hat etwas vor.“ Ahmad nimmt sofort Kontakt zu dem Jugendlichen auf, die beiden führen intensive Gespräche, es entsteht Vertrauen. Schließlich erzählt der Jugendliche Ahmad offen von seinem ursprünglichen Plan – ein Plan, der inzwischen erloschen war und nie in die Tat umgesetzt wurde. Durch Zuwendung und Aufklärung konnte Ahmad die Perspektive eines Jugendlichen um 180 Grad wandeln.
Ahmad ist 25 Jahre alt. Seine Arbeit zielt auf Extremismus- und Gewaltprävention ab. Er arbeitet überwiegend mit Jugendlichen, die mit afghanischem, syrischem oder tschetschenischem Migrationshintergrund in Wien leben. Ihre Eltern haben Krieg erlebt – und auch manche der Jugendlichen selbst. Sie sind traumatisiert und spüren gleichzeitig die Vorurteile der österreichischen Gesellschaft gegen sie. Das gefährdet sie, anfällig für die Ideologien extremistischer Gruppierungen zu werden. Ahmad versucht, diese Jugendlichen genau davor zu schützen.
Er hat die Spirale der Radikalisierung eigens erfahren. „Ich bin ja selbst ein Kriegskind“, sagt Ahmad. Bis zu seinem vierten Lebensjahr wohnt er in Tschetschenien. „Dort habe ich unter anderem gesehen, wie mein Onkel umgebracht wurde.“ Als er nach Wien kommt, ist er schwer traumatisiert und leidet unter epileptischen Anfällen. In der Schule erfährt er Diskriminierung. „Mir wurde die ganze Zeit als Kind angehängt, dass ich, weil ich Tschetschene bin, gewaltbereit sein muss, dass ich kriminell sein muss und ein zukünftiger Terrorist sein muss“, erzählt Ahmad. „Ich war ein bisschen anders. Ich war sehr gut in der Schule, aber ich hatte meine Prinzipien, ich war nicht unterworfen und habe nicht immer blind gehorcht.“ Er stößt auf Unverständnis. Die Lehrer*innen zweifeln seine guten Noten an. Schummelt er? Ahmad beginnt sich zu verändern. Er radikalisiert sich. Schließlich ist es so weit: Er sitzt in einem Bus auf dem Weg nach Syrien, um sich der Terrorgruppe IS anzuschließen. Doch so weit kommt es nicht. Seine Schwester, der er sich anvertraut hatte, alarmiert den Vater, der seinen Sohn gerade noch rechtzeitig abfangen kann.
Ich kann das nachvollziehen, wie die Jugendlichen sich fühlen und umso besser mit ihnen arbeiten.
Rückblickend erklärt er, welche inneren Prozesse bei ihm abliefen: „Ich versuchte, mir eine positive Identität zu verschaffen. Die kriegte ich aber nicht, ich kriegte nur die negative Identität. Dann nahm ich zumindest die Negative, damit ich irgendeine hatte.“ Ahmad fragt sich nach der gestoppten Ausreise, wie er sich so radikalisieren konnte – trotz seines positiven häuslichen Umfelds, dass ihn vor extremistischen Gruppierungen aufgeklärt und gewarnt hatte. „Wenn mir das passiert, obwohl ich einen starken Rücken hatte, dann wird es Leuten, die gar keinen Halt haben, viel einfacher passieren.“ Mit diesem Gedanken begibt sich der damals siebzehnjährige Ahmad auf einen neuen Weg. Er fasst den Entschluss, im Bereich Extremismus und Gewaltprävention aktiv zu werden. „Das ist mein Schicksal. Ich bin ein gläubiger Mensch.“
Ahmad hält österreichweit Vorträge und gibt Workshops in Schulen, Jugendzentren und Universitäten. Außerdem arbeitet er mit Jugendlichen zusammen, die speziell von der Propaganda extremistischer Strömungen in Wien gefährdet sind. Dabei helfen ihm seine Selbsterfahrungen: „Ich kann das nachvollziehen, wie die Jugendlichen sich fühlen und umso besser mit ihnen arbeiten.“ Nicht nur im Alltag, auch in den Medien ist Islamfeindlichkeit präsent. „Es wird die ganze Zeit versucht, Muslime so schlecht wie möglich darzustellen. Und das merken die Jugendlichen, die sind ja nicht dumm.“ Für Ahmad ist das ein gefährlicher Fall von sich selbst erfüllender Prophezeiung: „Wenn ständig gesagt wird, wie böse du bist, dann wirst du es auch.“
Die Dokustelle Österreich veröffentlichte im Jahr 2023 den neunten Antimuslimischen Rassismus Report. 1522 verzeichnete Fälle im vergangenen Jahr seien ein besorgniserregender Anstieg, schreibt die Dokustelle Österreich in einer Stellungnahme und warnt vor gesellschaftlicher Spaltung. Noch nie wurden so viele Fälle von antimuslimischen in den vergangenen acht Jahren gemeldet – seit es die Reports gibt. Immer mehr Eltern, Schüler*innen und Lehrer*innen berichten von antimuslimisch rassistischen Vorfällen. Diese passieren vor allem im Netz, doppelt so häufig Online wie Offline.
Prävention ist einer der wichtigen Bausteine für den Frieden, dass man die Leute aufklärt über verschiedene Kulturen, Religionen und Traditionen, für ein besseres Zusammenleben, ein friedliches Zusammenleben.
Auch Ahmad ist in den Sozialen Medien vertreten – um Hass und Hetze entgegenzuwirken. Vor allem jedoch, um Jugendliche zu erreichen und abzuholen. Er betreibt das TikTok Projekt Cop und Che, ein Gesprächsformat zwischen ihm und einem ehemaligen Wiener Polizisten Uwe, bei dem sie gemeinsam Fragen der Jugendlichen zu Straftaten und dem österreichischen Gesetz beantworten. Außerdem macht er wöchentlich mehrere Livestreams, bei denen er ebenfalls auf den Gesprächsbedarf der Jugendlichen eingeht. Die Themen reichen von der Terrorgruppe Islamischer Staat, über Religion bis hin zu falschen Frauenbildern. Seine Zuschauer*innen sind nicht nur muslimisch, sondern haben verschiedene Religionszugehörigkeiten – ein Ziel von Ahmad.
„Prävention ist einer der wichtigen Bausteine für den Frieden, dass man die Leute aufklärt über verschiedene Kulturen, Religionen und Traditionen, für ein besseres Zusammenleben, ein friedliches Zusammenleben“, sagt Ahmad. Doch für seine Arbeit erhält der 25-Jährige nicht nur Anerkennung. Rechtsextreme und extremistische Gruppierungen hetzen im Netz gegen ihn, auf der Straße wird er bedroht, in seinem Briefkasten liegen Morddrohungen. „Das heißt für mich, ich muss erst recht weitermachen“, sagt Ahmad. „Im Tschetschenischen gibt es die Worte zurückziehen oder zurücktreten, aber das Wort aufgeben gibt es nicht.“
Interview und Text: Sophie Kofer
Materialien und Workshops zu den Young Peacebuilders
Ahmad Mitaev auf TikTok und Instagram https://www.tiktok.com/@ahmadtvie
https://www.instagram.com/copundche
Das Buch „Cop und Che“ von Edith Meinhart über Ahmad Mitaev und Uwe Schaffer https://www.mandelbaum.at/buecher/edith-meinhart/cop-und-che/
Hier kannst du das Austellungs-Plakat von Ahmad Mitaev in A3 als PDF herunterladen (z.B. für die Schule oder Klasse).
Du möchtest wissen wie du mit „Young Peacebuilders“ arbeiten kannst oder einen Workshop buchen? Wende dich an das Friedensbüro Salzburg: https://www.friedensbuero.at/workshops/
Unser Workshop-Angebot, das aus drei Teilen besteht, beschäftigt sich mit den Themen Frieden, Friedensarbeit, Möglichkeiten des Handelns und verschiedenen Ausdrucksformen und kann flexibel gebucht werden.
Friedensbüro Salzburg
Lasserstraße 30/3
5020 Salzburg
Tel.: +43 (0) 662/ 87 39 31
Email: office@friedensbuero.at
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