Radikalisierungsursachen

„ Wenn wir uns auf den Aufstieg des Islamischen Staates fokussieren und uns auf die Suche nach dem Ursprung der Gewalt machen, […] müssen wir möglicherweise über die einfachen Erklärungen von Religion und Ideologie hinausblicken.“ (Robert F. Kennedy, Jr., 2016)

Es ist keine Frage, dass auch Religionen und Ideologien einen wesentlichen Faktor bei der Entscheidung spielen können, sich einer extremistischen Organisation anzuschließen. Menschen, die sich gewaltorientierten-islamistischen Strömungen hinwenden, begründen ihr Handeln häufig mit der Pflicht, sich dem wahren Islam anzuschließen, das Kalifat im sogenannten „Islamischen Staat“ aufzubauen oder die islamische Gemeinschaft, die Umma, zu verteidigen. Niederländische und dänische Studien zeigten aber auch, dass hinter dem Interesse am Islamismus oft die Suche junger Menschen nach Identität und Lebenssinn steht. Biografische Krisen und Erfahrungen des Scheiterns können ebenfalls eine Rolle spielen. Viele Jugendliche sind auch auf der Suche nach Action und Nervenkitzel oder schließen sich extremistischen Gruppierungen aus einem Akt des Protestes oder der Provokation heraus an.

Die meisten ausländischen Rekrutierten des IS kommen aus Regionen, in denen viele Menschen von Armut betroffen sind.  Nicht zu unterschätzen ist deshalb auch der finanzielle Anreiz den, vor allem der IS seinen KämpferInnen bietet. Auch in vielen europäischen Ländern findet der IS Werber und Werberinnen, die aufgrund ihrer sozialen Lage keinen anderen Ausweg mehr sehen. Viele, die sich dem IS anschließen, sind auf der Suche nach einer Perspektive, einem sinnvollen Leben, nach Wohlstand und Anerkennung – alles Faktoren, die sie in der Gruppierung zu finden glauben.

Materielle Faktoren oder Lebenskrisen allein reichen jedoch meist nicht aus, damit sich jemand gewaltorientierten Extremismen anschließt. Hier setzt die Ideologie ein. Sie bietet dem Leid und der Wut der Menschen feste Antworten und Lösungsansätze. Der IS gewinnt seine Gefolgschaft, indem er Zuflucht bietet. Er propagiert einen Ausweg aus dem privaten Scheitern fliehen und in einem größeren Ganzen aufgehen zu können. Seine Welt ist entlang der Pole „Gut“ und „Böse“ strukturiert und bietet für viele Klarheit in einer immer verwirrenderen Welt. Viele gewaltorientierte Islamisten und Islamistinnen haben auch gemeinsam, dass sie zunächst „religiöse Neulinge“ sind. Meist haben sie daher kein tiefer gehendes theologisches Wissen, weshalb sie potenziell empfänglich für radikale Auslegungen sind, da sie oft nicht die unterschiedlichen Versionen des Islams gegeneinander abwägen können oder in der Lage sind,  Gegenargumente zu liefern.

Auch gesellschaftliche Debatten, die mitunter Ursache für Diskriminierungserfahrungen oder -empfindungen sind, können den Anschluss an extremistische Gruppen fördern. Denn Diskriminierung kann nicht nur als persönliche Ausgrenzung, sondern auch als Demütigung aller Musliminnen und Muslime erlebt werden. Extremistische Organisationen können wiederum daran anknüpfen und solche Wahrnehmungen verstärken.

Eine Hinwendung zum gewaltorientierten Islamismus geschieht nie aufgrund eines einzelnen Faktors. Sie ist immer ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Aber selbst wenn viele der Kennzeichen vorliegen, folgt nicht unbedingt eine Hinwendung oder gar Radikalisierung. „Nicht jeder […] Mensch der sich für diese Bewegungen, ihre Botschaften und Angebote interessiert oder sich auch (vorübergehend) in diesen Milieus bewegt, ist deshalb bereits ideologisch radikalisiert oder gar ein/e potenzielle/r Terrorist/in“ (Herding, Maruta et. al, 2015). Hinwendungs- und Radikalisierungsprozesse verlaufen nicht geradlinig, sondern können sich verstärken, wieder abflauen und an verschiedenen Stellen auch wieder abbrechen.

Quellen, Links und Lesetipps

Ruf, Werner: Der „Islamische Staat“ oder Daesh. In: Edlinger, Fritz (Hrsg.): Der Nahe Osten brennt. Zwischen syrischen Bürgerkrieg und Weltkrieg. Promedia: Wien 2016. S.55 – 70.

Herding, Maruta; Langner, Joachim; Glaser, Michaela (15.09.2015): Junge Menschen und gewaltorientierter Islamismus –  Forschungsbefunde zu Hinwendungs- und Radikalisierungsfaktoren. (abgerufen am 12.06.2018)

Robert  F. Kennedy, Jr. (23.02.2016): Warum die Araber uns in Syrien nicht wollen (Übersetzung: Nadja S.) (abgerufen am 12.06.2018)