Warum töten Menschen im Krieg?

Warum sind Menschen, die sich im zivilen Leben niemals zu Derartigem entschließen würden, im Krieg auf einmal in der Lage, einander zu töten? Die Antworten darauf fallen alles andere als eindeutig aus. Allein die Rolle des tötenden Soldaten steckt voller Widersprüche und Paradoxa und kann, je nach Charakter – und je nach Krieg – denkbar unterschiedlich ausgeführt werden. Ein Soldat an der Front folgt nur zum geringen Teil seinen eigenen Trieben. Vielmehr ist er an ein verwickeltes, riesiges Netzwerk von Kräften angeschlossen. Wer im Krieg tötet, repräsentiert die Willensbildung von Millionen und funktioniert als Teil der hierarchisch streng gegliederten Gruppe „Armee“, deren Gruppendynamik ein ganz neues Verhalten bei ihm auslöst.

Menschen wie wir alle

„Menschen, die in Kriegen und politischen Konflikten töten,“ meint das ehemalige IRA-Mitglied Alastair Little, „sind keine Dämonen und Monster mit zwei Köpfen. Es sind Menschen wie wir alle. Unter den richtigen Umständen, wenn die richtigen Knöpfe in uns gedrückt werden, können wir das alle.“ Und in der Tat erwies sich von Auschwitz bis Ruanda stets von neuem, dass durchschnittliche KriegsverbrecherInnen im zivilen Leben Menschen wie du und ich sind.

Die Journalistin Dorothee Frank nennt sechs Faktoren, die massenhaftes Töten in modernen militärischen Konfrontationen überhaupt ermöglichen:

  1. Der Befehlsdruck und die Tatsache, dass staatliche und militärische Autoritäten die Verantwortung für die Tötungshandlung übernehmen – daher auch der Terminus „autorisiertes Töten“.
  2. Der Umstand, dass – sobald zwei Heere aufeinander treffen – tatsächlich und objektiv für die SoldatInnen beider Seiten die Notwendigkeit zur Verteidigung des eigenen Lebens eintritt.
  3. Die immer raffiniertere Waffentechnologie, die ein „anonymisiertes Töten“ unsichtbar bleibender Opfer aus hoher physischer und psychologischer Distanz ermöglicht.
  4. Die massive seelische Beeinflussung zukünftiger KämpferInnen in der Trainingsphase, nebst Konditionierung zum bloß reflex-gesteuerten Abfeuern der Waffe.
  5. Die intensive Gruppenbindung, die unter KampfsoldatInnen unweigerlich entsteht und der „Diffusion“ individueller Verantwortung förderlich ist.
  6. Getötet wird außerdem aus Angst, aus Hass (der nicht selten einst Zuneigung war), aus verletztem Selbstwertgefühl, aus Wut über vermeintliche oder tatsächliche Ungerechtigkeiten, aus Rache, aus Besitzgier sowie aus Hunger nach Macht, aus der Sehsucht, einmal zu erleben, niemanden Höhergestellten über sich zu haben, sondern selbst der Höchste zu sein.

Die Frage nach der Schuld bleibt offen

Diese (und noch andere) Kräfte vermögen Menschen zwar zu Tötungshandlungen zu bewegen, aber sie machen aus ihnen nicht automatisch entindividualisierte, folgsame Killermaschinen, die allesamt ohne Vorbehalte und Gewissensbisse töten und danach problemlos in den zivilen Alltag zurückkehren können. Die Frage nach individueller Schuld und Verantwortung und die Bereitschaft der Auseinandersetzung damit wird von Menschen und Gesellschaften sehr unterschiedlich beantwortet und begleitet die Betroffenen ein Leben lang. (red)

Quellen, Buchtipps und Links:

Dorothee Frank (2006):  Menschen töten. Düsseldorf: Walter Verlag.

Christopher Browning (1993): Ganz normal Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt-Verlag.

Dave Grossmann (1996): On Killing. The Psychological Cost of Learning to kill in War and Society. New York/Boston: Back Bay Books.

Harald Welzer (2005): Täter. Wie aus ganz normalen Männern Massenmörder werden. Frankfurt am Main: S. Fischer-Verlag GmbH.

Slavenka Drakulic (2004): Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht. Wien: Zsolnay Verlag.

Roger Willemsen (2006): Hier spricht Guantanamo. Frankfurt am Main: Verlag Zweitausendeins.

Gert Sommer/Albert Fuchs (2004):  Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie. Weinheim/Basel/Berlin: Beltz-Verlag.

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Institut für Friedenspädagogik Tübingen 
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Dadalos (abgerufen am 10.1.2018)

Bildquelle:

www.sxc.hu (abgerufen am 10.1.2018)