Tschetschenienkriegsveteran Andrej

Ihr Sohn Andrej sei nicht stabil, erzählt Frau Ljapina; der Krieg habe katastrophale Folgen hinterlassen: „Man hat die jungen Männer zu Zombies gemacht.“ Immer wieder werde er von unkontrollierbaren emotionalen Ausbrüchen geplagt, etwa, wenn Andrej Filme mit Kampfszenen sieht. Er werde dann nervös. Oder apathisch. Können nicht aufstehen, verschließe sich in sich selbst. Auf der Straße sei er häufig in Schlägereien verwickelt worden.
Wir haben die Namen von Andrej und Frau Ljapina, die im Moskauer Industrieviertel Marinjo wohnen, auf deren Wunsch geändert. Zu sensibel ist das Thema des Tschetschenienkrieges in Russland nach wie vor. Dass einer von den russischen Ex-Kämpfern überhaupt redet, ist schon eine Sensatiion. In der medialen Öffentlichkeit ist der zweite Tschetschenienkrieg kein Thema mehr. Solange er eines war, wurde er als triumphale Machtdemonstration Putiins dargestellt. Mit seinem Machtantritt vor acht Jahren begann für hünderttausende Tschetschenen, aber auch Russen das, was man mit einer dramatischen, aber zutreffenden Metapher „die Hölle“ nennt.
In sie ist der damals 19-jährige Andrej Ende 2000 eingestiegen, weil man so den Wehrdienst um zwei Drittel verkürzen konnte. Geblendet vom Geld, hatte Andrej ein halbes Jahr als Vertragssoldat angehängt: „Lediglich das Geld für einen Monat haben sie mir gezahlt“, ärgert sich der heute 25-Jährige. Die umgerechnet 10.500 Euro, die man ihm noch schuldig ist, wird er nie mehr sehen, den Kameraden geht’s genauso.
„Der Krieg ist für viele ein Supergeschäft, deshalb wurde er auch hinausgezögert“: Korruption bis in höchste Kreise, Sabotage durch Waffenverkäufe an Gegner, Menschenhandel und die berüchtigten Säuberungen: „Was machst Du, wenn ein kleiner Bub mit einem Maschinengewehr um sich schießt?“, sinniert Andrej über die fatalsten Momente: „Würdest du zurückschießen? Wenn du nicht schießt, erschießt er dich. Das ist Krieg.“ Vier Menschen hat Andrej bei Tageslicht erschossen, wie viele es in der Nacht waren, sei schwer zu sagen.
Kriegsveteranen sind in der rauen russischen Wirklichkeit gefragt. Aus der Militärdatenbank werden sie von Wachdiensten, staatlichen Geheimstrukturen oder der Mafia rekrutiert. Andrej lehnte die heiklen „Jobs“ ab. Eine Zeitlang war er im Wachdienst wie sein Vater, danach bei verschiedenen Firmen, derzeit montiert er Ventilatoren. „Andrej wechselt die Arbeit häufig“, bedauert seine Mutter, die sich von ihrem Mann getrennt hat, die Zweizimmerwohnung aus Geldmangel aber weiter mit ihm teilen muss.Alle Jungen müssten durch diesen Krieg durch, hätte Andrejs Vater gemeint: „Ich weiß nicht. Vielleicht verstehe ich da als Frau etwas nicht“, sagt Frau Ljapina.
Andrej findet den Anschluss an das zivile Leben schwer. „Wir wurden zum Töten trainiert“, sagt er. Der Krieg sei Zufluchtsstätte im Kopf, sagt Frau Ljapina: Wenn ihr Sohn im zivilen Leben Schwierigkeiten habe, wolle er an einen Kampfschauplatz. Andrej sagt, dort sei alles leichter.

Auszug aus: Eduard Steiner: „Gorbis große Kinder“. Der Standard. Samstag, 26. Jänner 2008