Das Thema Krieg zwischen Faszination und Widerstand
Tabus faszinieren
Als Kind fand ich in einer Illustrierten auf unserem Küchentisch seltsame Schwarzweißfotos: Behelmte Männer kriechen mit angstverzerrtem Gesicht über einen Acker. Ein Mensch mit aufgerissenen Augen liegt in einer Blutlache. Es machte mir Angst und gleichzeitig zog es mich magisch an. Als meine Eltern das bemerkten, versuchten sie, das Magazin vor mir zu verstecken. „Das ist nichts für Dich!“ So steigerte sich mein Interesse.
Die Faszination der „Bilder vom Krieg“ begegnet uns heute bei Jugendlichen, die sich „Herr der Ringe“ anschauen oder sich im Computerspiel als Ego-shooter in unterirdischen Bunkern blutige Kämpfe liefern (der Spieler bewegt sich in „Ich-Perspektive“, sieht auf dem Monitor einen Arm mit der MP in der Hand als wäre es sein eigener). Gleichzeitig erleben wir besorgte und oft ratlose Eltern und LehrerInnen, die dies zu verbieten versuchen.
Was verboten ist, fasziniert.
Extremformen der Existenz unterstützen die Selbstfindung
Jugendliche interessieren sich auf der Suche nach ihrem persönlichen Welt- und Menschenbild naturgemäß für die Extreme menschlicher Existenzformen. Dort sind die Grenzen dessen zu erahnen, wozu der Mensch fähig ist. Zwischen Extrempolen lässt sich die Bandbreite erfassen, innerhalb derer die eigene Identität konstruiert werden kann.
Dies betrifft das Staunen über besondere sportliche, künstlerische, wissenschaftliche, humanitäre Leistungen ebenso wie das Ausloten, zu welcher Grausamkeit, Gefühllosigkeit, Leidensbereitschaft oder Unterwerfung der Mensch in Krieg und Gewaltexzessen bereit ist. Und es zeigt, zu welcher menschlichen Größe der Einzelne fähig ist angesichts der Bedrohung von Leib und Leben, wenn er im gewaltfreien Widerstand das eigene Leben riskiert.
Probehandeln gibt Sicherheit
Schlachtenspiele in aggressiven Turnierkämpfen, die Gruselromane eines Edgar Allen Poe und seiner postmodernen Nachfolger, Horrorfilme, Kriegsfilme, Kriegsspiele auf dem Smartphone – das Ausloten der menschlichen Extreme in einer Als-Ob-Situation hat eine lange historische Tradition.
Die Beschäftigung mit medial aufbereiteten Szenen kriegerischer Gewalt kann den Charakter eines „Probehandelns“ annehmen. Ertrage ich die Konfrontation mit diesen Bildern? Welche Ressourcen habe ich, um dem virtuellen Grauen standzuhalten? Wenn ich das schaffe, kann ich mich vielleicht ein wenig besser gewappnet fühlen gegen jene mehr oder weniger bewussten Ängste, dass ich in meinem wirklichen Leben irgendwann einmal in eine vergleichbare Bedrohung kommen könnte. In eine Bedrohung, der viele Menschen jeden Tag ausgesetzt sind, und die täglich in unseren persönlichen Bereich eindringt. In der Zeitung auf unserem Küchentisch oder auf facebook und twitter in den kurzen Pausen zwischen Unterrichtsstunden.
Ambivalenz ruft nach Klärung und Lösung – oder sie erzeugt Widerstand
Kriege spielen seit Menschengedenken eine machtvolle Rolle als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Sie sind in den Medien ständig präsent als eine existentielle Form menschlicher Auseinandersetzung. Andererseits sind kaum noch Kulturen auszumachen, die den Krieg offiziell verherrlichen oder auch nur gut heißen. Es besteht scheinbar Einigkeit darüber, dass es sich hierbei um ein Versagen der Politik handelt – gleichzeitig wird am Krieg und Wiederaufbau gut verdient.
Kinder und Jugendliche spüren diese Widersprüche. Sie können darin eine Herausforderung sehen, der Sache auf den Grund zu gehen. Oder sie empfinden die Widersprüche als unangenehm oder unerträglich und schotten sich ab, wollen sich mit diesen Themen nicht beschäftigen, gehen in den Widerstand. Und in denselben Ambivalenzen leben auch Erwachsene, wenn sie Kinder und Jugendliche pädagogisch sinnvoll begleiten wollen.
Kinder und Jugendliche zum Thema „Krieg“ begleiten
Die Konfrontation mit „Krieg“ muss das Bedürfnis nach seelischer Stabilität respektieren. Einerseits wollen wir als PädagogInnen und Eltern die selbstgewählte, faszinierte Beschäftigung mit Kriegsspielen verbieten oder zumindest von den anvertrauten Kindern und Jugendlichen fern halten. Und andererseits wollen wir sie dazu bewegen, sich im Rahmen von Unterricht rational und reflektierend mit den Schrecknissen des realen Krieges zu beschäftigen. Dabei wird leicht übersehen, dass die „eigenmächtige“ Auseinandersetzung ein Versuch von Jugendlichen sein kann, innere Stärke, Klärung der eigenen Position und damit mehr persönliche Sicherheit zu gewinnen, um sich mit dem Aspekt „Krieg“ in diesem Leben zurechtzufinden. Möglicherweise verhindern wir durch dieses „Beschäftigungsverbot“ eine wichtige emotionale Voraussetzung, sich auf eine Konfrontation mit dem Trauma einzulassen, das mit „echtem Krieg“ immer verbunden ist. Dieses Trauma geht umso mehr unter die Haut, je mehr wir noch die emotionale Offenheit eines Heranwachsenden haben, der sich noch nicht – aus einem Selbstschutz heraus – ein dickes Fell zugelegt hat.
Kinder und Jugendliche finden es albern und nervend, wenn Eltern und LehrerInnen ihnen unterstellen, sie würden den Unterschied zwischen filmisch oder digital aufbereiteten Gewalt- und Kriegsszenen und der Realität nicht erkennen. Werden Jugendliche real mit Erzählungen oder Augenzeugenberichten konfrontiert, tritt – je nach persönlicher Verfassung – Abwehr, Abscheu, Schock, Empörung und auch Mitgefühl in den Vordergrund.
Der Faszination und dem Widerstand Raum, Halt und Führung geben
Nicht das Verbot, sondern das gemeinsames Betrachten der „Bilder vom Krieg“ und die Ermutigung zum Austausch über Gefühle wie Abwehr, Gleichgültigkeit, Macht und Ohnmacht, Wut und Rachelust ermöglicht, dass diese Emotionen in die Obhut und Kontrolle eines steuernden „Ich“ gebracht werden können. Dann ist es mitunter möglich, dass sich in einer echten zwischenmenschlichen Begegnung zwischen Jugendlichen und Erwachsenen die „Sinnfrage“ stellt und tiefer gehende Ressourcen aktivierbar werden. Dass universelle Werte und Spiritualität als Rahmen sichtbar werden können, die dem Zerstörerischen inneren Halt bieten. Was die Chancen erhöht, dass im Falle realer politischer Entwicklungen in einer solchen Person weniger Hass geschürt werden kann. Sondern eine größere Bereitschaft entwickelt wird, de-eskalierend zu handeln.
Die Wunde erkennen
Gefährdet für eine erhöhte Gewaltbereitschaft sind jene Personen und sozialen Gruppierungen, die eine mehr oder weniger unerkannte größere innere Wunde mit sich tragen. Eine Wunde, die entstanden ist durch Ohnmacht und Demütigung, oder als Ergebnis einer Ungeübtheit, gut mit Frustration umzugehen. Wenn diese Wunde nicht wahrgenommen und erkannt wird, kann sie als erhöhte Spannung und Aggressionsbereitschaft wirksam werden. Und auch als Verführbarkeit, sich in gewaltbetonte Auseinandersetzungen zu begeben und in diesen die entlastenden Ventile zu finden.
Gerade auch direkt betroffene, traumatisierte Teilnehmer von kriegerischen Auseinandersetzungen und Opfer körperlicher Gewalt können von einer erhöhten Erregungs- oder Aggressionsbereitschaft gezeichnet sein, können zu depressiven und psychosomatischen Reaktionen neigen, bzw. aus Selbstschutz die Beschäftigung mit dem Thema Krieg verweigern. Diese Reaktionen beobachten PädagogInnen immer wieder bei SchülerInnen die aus Krisengebieten zu uns kommen. Ausreichende Angebote, das Erfahrene zum Ausdruck zu bringen und das Mitgefühl anderer zu erfahren, kann diese Reaktion mildern, vielleicht auch teilweise heilen. Dies setzt einen sicheren, geborgenen und wertschätzenden Rahmen voraus, der zusätzliche psychotherapeutische Qualifikationen erfordern kann.
Formen der Heilung und des Widerstands entwickeln, die jenseits erneuter Aggression liegen
Die Erfahrung, dass andere Menschen unsere Verletzungen nachempfinden und die Leistung anerkennen, die im Bewältigen eines persönlichen Schicksals liegt, hat etwas Heilsames. Dies gilt für jede Erfahrung von Gewalt; sei sie familiärer, sozialer, wirtschaftlicher oder kriegerischer Natur. Je stärker eine Person durch eine mitmenschliche Reaktion erfährt, dass ihre Unversehrtheit einen hohen Wert darstellt, dass sie ein Recht auf körperlichen und seelischen Schutz hat, dass sie Mitgefühl bekommt, wenn dieser Schutz durch gewaltsame Erfahrungen zerbrochen ist, desto eher kann eine solche Person auch Mitgefühl entwickeln mit andern Opfern von Gewalt. Auch mit den Soldaten, die ja gleichzeitig geschundene Opfer und scheinbar gefühllose Täter in einer Person sind. Daraus kann die Kraft entspringen, sich Krieg und Gewalt generell zu widersetzen.
Der Ohnmacht nicht das Feld überlassen – gewaltfreie Formen der Auseinandersetzung erarbeiten
Ohnmachtsgefühle im Angesicht von Gewalt sind riskant, da sie rasch in eskalierende Aggression umschlagen können. Um dieser Entwicklung nicht das Feld zu überlassen, können Pädagogen auf verschiedenen Ebenen mit Jugendlichen arbeiten.
- Gewaltfreie Formen des Widerstands setzen voraus, dass die eigene Würde entdeckt, anerkannt und gelebt werden kann. Stellen wir unseren SchülerInnen möglichst Aufgaben, die erfolgreich lösbar sind. Ermutigen wir sie in Schwierigkeiten. Geben wir ihnen eine Form Anerkennung, die vorhandene menschliche Schwächen mit einschließt, auch wenn wir gerade Kritik üben. Damit unterstützen wir sie, ihre eigene Mitte zu finden.
- Zeigen wir unseren SchülerInnen, dass wir auch mit uns selbst in dieser Weise gut umgehen. Respekt gegenüber der eigenen Verletzlichkeit und die Annahme der eigenen Schwächen ist die Basis für Mitfühlen mit der Not anderer und damit die beste Prävention gegen jene Gewaltbereitschaft und Kriegsbegeisterung, die so oft aus Gewalterfahrung und Demütigung erwächst.
- Das Einüben zentrierender und die Selbstwahrnehmung stärkender Techniken (Atmung und Erdung, wie zB in Tai Chi, Chi Gong, sowie Meditation und Gebet) kann dazu beitragen, sich seiner Emotionen bewusst zu werden und sich auch in emotional beunruhigenden Situationen selbst Halt zu geben.
- Das Erlernen wertschätzenden Zuhörens kann die Erfahrung zwischenmenschlicher Solidarität fördern, die als eine der stärksten Quellen von innerer Stärke und Mitgefühl wirksam ist. Ein in seinem sozialen Netzwerk und in sich selbst ruhender Mensch neigt weniger zu eskalierendem Denken und Handeln.
- Mediation und Peermediation haben sich als Modelle gewaltfreier Konfliktbewältigung auch in Schulen bereits bewährt. Die dabei erfahrenen Erfolgserlebnisse stärken die Vorstellungskraft und das Vertrauen, dass auch politische Konflikte gewaltfrei lösbar sein können.
- Die Auseinandersetzung mit historischen Persönlichkeiten (Gandhi, Martin Luther King, Jesus, Geschwister Scholl und viele andere) und Vorbildern aus dem persönlichen Umfeld, die diese hohe Achtung und Selbstachtung durch ihr Leben verdeutlichen, kann unterstützende Impulse geben.
- Die Formen gewaltfreien Widerstands in der Geschichte, die sich als soziale Bewegungen mit teilweise hohem Organisationsgrad zeigten und geprägt waren von zwischenmenschlicher Solidarität, (zB Prager Frühling, Indische Unabhängigkeitsbewegung zur Zeit Gandhis) ermöglichen eine gerade auch für Jugendliche faszinierende Recherche, die Wege aus der Ohnmacht aufzeigen kann.
- In diesem Sinn bietet die Beschäftigung mit den Bereichen „Frieden machen“ und „Handeln“ auf dieser Homepage viele Anregungen.
- Wird das Bedürfnis nach seelischer Stabilität ernst genommen, erhöht das die Bereitschaft, sich auch wichtigen rationalen Erkenntnissen zu stellen, zB:
– dass Feindbilder (Volk, Religion, Rasse), die vielleicht bis dato zur Stabilisierung des Selbstwerts benötigt wurden, aus der Geschichte erklärbare Konstrukte sind.
– dass Kriegsursachen auch unter historisch-wirtschaftlichen Aspekten zu analysieren und zu bewältigen sind.
Wenn Kopf und Bauch in dieser Weise zusammenwirken, wird ein selbstbestimmter und besonnener Mensch sichtbar, der in der Lage ist, sich dem Thema Konflikt und Krieg in reflektierter Weise zu nähern und seinen persönlichen Anteil zu gewaltfreien Entwicklungen beizutragen.
Christine Tschötschel-Gänger