Gruppendynamik und Massenhysterie

Intensive Gruppenbindungen führen zum Abbau von Tötungshemmungen, die im zivilen Leben undenkbar wären. Vor allem in Zeiten der Orientierungslosigkeit fällt es leicht, ein fehlendes Zusammengehörigkeitsgefühl zu inszenieren.
Aufgrund einer schlechten wirtschaftlichen, politischen oder auch rein persönlichen Situation werden vermeintlich logische und einfache alternative Gesellschaftsmodelle gerne angenommen.

So konnten beispielsweise die Nationalsozialisten mit ihrem Konzept der „Deutschen Volksgemeinschaft“, die in erster Linie dadurch definiert wurde, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu Sündenböcken gemacht wurden, in erster Linie die Emotionen der Menschen ansprechen.

Die Bevölkerung wurde im Sinne der NS-Ideologie durch gezielte Propagandamaßnahmen“vereinheitlicht“, ihr wurde ein intensives, oft euphorisches Gemeinschaftserlebnis geboten, das sich bei NS-Großveranstaltungen – vor allem, wenn Adolf Hitler anwesend war – bis hin zu einer wahren Massenhysterie aufschaukelte.

Die Dynamik, die jene „Volksgemeinschaft“ entwickelte und sie bis zu einem gewissen Grad zum „Selbstläufer“ machte, verhinderte es auch, dass viele Menschen den wahren Charakter des Regimes nicht oder zu spät erkannten.

Zum Beispiel: „Die Mühlviertler Hasenjagd“

In der Nacht zum 2. Februar 1945 unternahmen etwa 500 sowjetische Häftlinge, hauptsächlich sowjetische Offiziere, als Kriegsgefangene bei acht Grad Frost einen Fluchtversuch aus dem Todesblock 20 des KZ Mauthausen. Mit den Feuerlöschern ihrer Baracke und diversen Wurfgeschossen (Decken, Brettern) griff eine Gruppe die beiden Wachtürme an, während eine zweite Gruppe mit feuchten Decken und Kleidungsstücken den elektrischen Zaun kurzschloss. Dann kletterten die Häftlinge über die Mauer.

Zunächst gelang es 419 Häftlingen, das Lagerareal zu verlassen. Viele der ausgehungerten Flüchtlinge brachen jedoch bereits kurz nach der Mauer erschöpft im Schnee zusammen oder starben im Kugelhagel der Maschinengewehre ihrer Bewacher. Alle, die nicht in die Wälder entkommen konnten, und 75 im Block zurückgebliebene Kranke wurden in derselben Nacht noch exekutiert. Insgesamt gelang über 300 Häftlingen vorerst die Flucht.

Treibjagd wurde ausgerufen

Noch am selben Morgen rief die SS-Lagerleitung eine „Treibjagd“ aus, an der sich neben SS, SA, Gendarmerie, Wehrmacht, Volkssturm und Hitler-Jugend auch die aufgehetzte Zivilbevölkerung der Umgebung beteiligte. Das Ziel dieser drei Wochen langen „Hetzjagd“ war, „niemanden lebend ins Lager zurückzubringen“. Der Großteil der Flüchtigen wurde aufgegriffen und meistens an Ort und Stelle erschossen oder erschlagen. Die getöteten Häftlinge wurden nach Ried in der Riedmark, dem Stützpunkt der Jagd, gebracht und dort zu einem Haufen gestapelt – wie bei Treibjagden Tradition. Mitglieder des Volkssturms, die Gefangene zurück zum KZ brachten, wurden beschimpft, weil sie diese nicht sogleich erschlagen hatten.

Nicht alle machten mit

„Es ist nur von elf Offizieren bekannt, dass sie die Menschenjagd und das Kriegsende überlebten. Einzelne Bauernfamilien und zivile ausländische ZwangsarbeiterInnen versteckten trotz des extrem hohen Risikos Häftlinge oder versorgten die in den umliegenden Wäldern versteckten Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln. Drei Monate später ging der Krieg zu Ende, die Häftlinge waren in Sicherheit.
Von der SS wurde diese Menschenjagd „Mühlviertler Hasenjagd“ genannt. Der Ausbruch selbst und die Tatsache, dass einigen die Flucht gelungen ist, stellt einen einzigartigen Vorfall in der Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen dar.
Aus dem Stoff der sog. „Mühlviertler Hasenjagd“ drehte der österreichische Regisseur Andreas Gruber den Film „Hasenjagd. Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen.“ (red)

Quellen, Links und Lesetipps:

Volker Dahm, Albert A. Feiber u.a. (2008): Die tödliche Utopie. Bilder, Texte, Dokumente, Daten zum Dritten Reich. München: Institut für Zeitgeschichte, S. 212-276.

Günter Ammon (1998): Gruppendynamik der Aggression. Beiträge zur psychoanalytischen Theorie. Frankfurt am Main: Klotz.

 Hasenjagd.at

www.mauthausen-memorial.at (abgerufen am 10.1.2018)

Bildquelle:

http://verleih.polyfilm.at/hasenjagd/fotos.htm (abgerufen am 10.1.2018)