Anonymisierung

Die immer raffiniertere Waffentechnologie ermöglicht ein „anonymisiertes Töten“ unsichtbar bleibender Opfer aus hoher physischer und psychologischer Distanz. Die modere Kriegstechnologie sucht mit ihren Waffen zunehmend eine Distanz zu den Zielen bzw. Opfern des Angriffs. Durch Fernlenkwaffen wurde die technologische Möglichkeit geschaffen, das Töten aus großer Entfernung zu bewerkstelligen , ähnlich einem Computerspiel. Tod und Zerstörung sind für jene, die die Angriffe koordinieren und durchführen, nicht mehr unmittelbar. Mögliche Gewissensbisse und Tötungshemmungen werden – im Sinne der Konditionierung – immer weniger.

Denkt man an die stereotypen Bilder früherer Kriege – sei es der amerikanische Unabhängigkeitskrieg oder der Dreißigjährige Krieg – so tauchen Szenen von Soldaten auf, die einander auf Schlachtfeldern mit ihren Waffen gegenüberstehen. Auch, wenn die Zahl der zivilen Opfer – insbesondere im Dreißigjährigen Krieg – damals schon extrem hoch war, so waren weder Täter noch Opfer anonyme „Figuren“ im Kriegsgeschehen.

 

Dies änderte sich mit der Entwicklung moderner Kriegstechnologien. Der Erste Weltkrieg gilt heute als der erste „industrialisierte Krieg“ in modernem Sinn, hinter dem eine mächtige Rüstungsproduktionswirtschaft stand. Das erste Mal wurden in der Kriegsführung Flugzeuge eingesetzt, bei denen ein Knopfdruck genügte, um ganze Landstriche durch Bombenteppiche zu zerstören. Des Weiteren setzte man erstmalig Senf- und Phosgengas ein, um die gegnerischen Soldaten zu töten oder zumindest kampfunfähig zu machen.

Diese „Modernisierung“ der Kriegsführung erreichte im Zweiten Weltkrieg eine weitere Stufe, vor allem hinsichtlich der Angriffe aus der Luft. Diese Angriffe hatten allerdings nicht nur militärische Ziele, sondern trafen in großen Ausmaß Städte und damit Zivilpersonen.
Diese zunehmende Anonymisierung – auf Seiten der Täter und der Opfer – hat sich im 20. Jahrhundert zunehmend weiterentwickelt und geht heute so weit, dass ein Knopfdruck, hunderte Kilometer vom Kriegsgeschehen entfernt, töten kann.

Am Beispiel von Luftangriffen im Vietnam-Krieg

Seit dem Februar 1965 setzten die USA wesentlich auf den Luftkrieg. Die Luftoffensive gegen Nordvietnam sollte die „Infiltration“ des Südens verhindern. Die militärische Sinnhaftigkeit ist fragwürdig, da Nordvietnam vor allem von der Agrarwirtschaft lebte, das über keine großen Industrieanlagen verfügte.
Präsident Johnson ließ ein Bewertungssystem erstellen, anhand dessen angeblich „wichtige militärische Komplexe“ in Nordvietnam für das Bombardement ausgewählt wurden. Unter dem Operationstitel „Rolling Thunder“ wurden von 1965 bis 1967 425000 Tonnen Bomben abgeworfen. Napalm und Splitterbomben forderten vor allem unter der Zivilbevölkerung Opfer, was weltweit Empörung auslöste. Viele Dörfer und Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht. Harrison E. Salisbury von der New York Times konnte sich als einer der ersten Journalisten ein Bild von den Zerstörungen machen:

„Wie die meisten der ‚militärischen Ziele‘, die ich in Nordvietnam zu sehen bekam, erschien Nam Dinh in der Sprache eines Pentagonsprechers viel bedeutender, als wenn man es mit eigenen Augen sah. Es war keine große Stadt. Sie war es nie gewesen. Nun, angesichts der kriegsbedingten Evakuierung, war sie nahezu verlassen. […] Wohnhäuser, Läden, alle Gebäude waren zerstört, beschädigt oder verlassen. […] Welche vernünftige Bedeutung konnte man dieser Verwüstung abgewinnen? Welchem militärischen Zweck diente sie?“ [Uri Avnery. Ein Leben für den Frieden. Palymra Verlag, Heidelberg 2003, S.12]

Das eigentliche Ziel dieser Offensive wurde nicht erreicht. In den USA entzündete sich an „Rolling Thunder“ der Protest der Kriegsgegner. Der Regierung wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, was diese in einen zunehmenden Erklärungsnotstand versetzte. Abgeschossenen Piloten wurden zu Geiseln Hanois und der Terror aus der Luft führte zu einer weiteren Solidarisierung der Menschen Nordvietnams untereinander.   (red)

Quellen, Links und Lesetipps

Georg W. Alsheimer (Pseudonym von Erich Wulff): Vietnamesische Lehrjahre. Bericht eines Arztes aus Vietnam 1961-1967. Frankfurt: Suhrkamp 1972.

Marc Frey (2006): Geschichte des Vietnamkrieges. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums. München: C.H. Beck, S. 126-128.

Walter Hess (2004): Töten auf Distanz. In: Natürlich, Nr. 6, S. 58-61, hier 61.

Gerhard Paul (2004): Bilder des Krieges. Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges. Paderborn: Schöningh.

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Hintergründe unter „Vietnamkrieg“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie (Abgerufen am 10.1.2018)