Heldenverehrung

Heldenverehrung im Krieg zeichnet sich durch die Überhöhung einer Person oder einer Personengruppe aus, mit dem Ziel, durch breite persönliche Identifikation in der Bevölkerung die Kriegsbegeisterung oder -zustimmung zu fördern. Häufig gehen damit Verkürzungen der historischen Wahrheit, Schwarz-Weiß-Bilder und Missbrauch persönlichen Leids zu Propagandazwecken einher. 

Zum Beispiel: Jessica Lynch

Die US-Gefreite Jessica Lynch wurde im Irak-Krieg schwer verletzt, von ihrer Einheit aus einem irakischen Krankenhaus befreit und zu Hause zu einer Heldin des Krieges. Doch sie wehrt sich gegen den Missbrauch ihres Leids. Der Bericht des Journalisten Thomas Kleine-Brockhoff schildert ihre Geschichte.

„Seit ihrer Heimkehr nach Palestine ist Jessica Lynch dort nur selten gesehen worden. Meistens sitzt die Gefreite Lynch im Rollstuhl oder sie geht auf Krücken. Sieben Monate sind seit ihrer Verwundung, Gefangennahme und Befreiung im Irak vergangen, doch immer noch kann sie höchstens 40 Schritte gehen. Arme und Beine, vielfach gesplittert, wachsen nur langsam wieder zusammen. Erst vor zwei Monaten wurde die Stahlklammer abmontiert, die das linke Schienbein stützte.“

„Jessica ist eine Heldin“

„Jedes Mal, wenn Jessica Lynch das Haus ihrer Eltern verlässt, begegnet sie ihrem zweiten Ich. Jenem Bild, das sich FreundInnen und Nachbarn, ja viele ihrer Landsleute während ihrer Abwesenheit von ihr gemacht haben. Binnen Sekunden ist sie dann von Menschen umringt, die nichts anderes wollen, als sie anzuschauen oder zu berühren – so, als gingen heilende Kräfte von ihr aus. Kameras klicken. Ein Kind fragt: ‚Mama, ist dies das Mädchen aus dem Fernsehen?‘ Und immer wieder hört sie: ‚Jessica, Sie sind eine Heldin.‘
Was damals im Südirak tatsächlich geschah, ist immer noch umstritten:
Die erste Version war jene frohe Botschaft, nach der eine Nation dürstete, deren Truppen gerade im irakischen Wüstensand festsaßen: Eine Heldin feuerte in aussichtsloser Lage wie Rambo auf den männlichen Feind, wurde – schwer verletzt – gefangen genommen und Tage später von eigenen Leuten gerettet. Jessica Lynch, 507. Versorgungseinheit, Prototyp des tapferen GIs, schien die Vorbotin eines bevorstehenden Durchbruchs nach Bagdad zu sein. Ihre Geschichte war eine Metapher für die Sieghaftigkeit des Krieges.“

Zweifel an der offiziellen Version

„Die zweite Version der Geschichte tauchte 24 Stunden nach Lynchs Befreiung erstmals auf, als ein BBC-Reporter ungehindert durch das Hospital von Nasirija spazierte. Die Stadt war inzwischen in amerikanischer Hand. Ein paar Fragen stellten sich: War die Kommando-Operation zur Befreiung notwendig oder nur martialisch inszeniert? Hat Lynch Schusswunden? Hat sie überhaupt geschossen?
In diesen Tagen nun kommt die dritte Lesart der Ereignisse auf den Markt. Sie zeugt vom Ende des Triumphes und der Hurra-Atmosphäre. Da ist erst einmal Jessica Lynch selbst. Sie versucht, sich von dem Image, das ihr von ihren Vorgesetzten und den KriegsberichterstatterInnen aufgenötigt wurde, zu befreien. Ein Mädchen vom Lande tritt auf, scheu, an Krücken humpelnd, gezeichnet. Es wehrt sich gegen den Missbrauch ihres Leidens zu nationalen Zwecken. ‚Ich bin keine Heldin‘, lautet ihr Kernsatz. ‚Ich habe nur überlebt.'“

„Ich habe mich benutzt gefühlt“

„Und wie? ‚Ich habe nicht geschossen, nicht einen Schuss.‘ Denn ihr Gewehr streikte. ‚Ich habe den Kopf zwischen die Knie gesteckt, die Augen geschlossen und gebetet. Das ist meine letzte Erinnerung.‘ Im irakischen Krankenhaus sei sie gut behandelt und nicht, wie behauptet, geschlagen worden. Von der Vergewaltigung, die ihre amerikanischen ÄrztInnen für möglich halten, weiß sie zumindest nichts. Ihre schärfste Kritik richtet sie gegen das Pentagon. ‚Die haben mich benutzt‘, sagt sie. ‚Benutzt, um all dieses Zeugs zu symbolisieren. Ich weiß nicht, warum sie alles gefilmt haben und warum sie all diese Dinge über mich behaupten.'“ [Von Thomas Kleine-Brockhoff, DIE ZEIT 13.11.2003 Nr.47]  (red)

Links und Lesetipps:

Catrin Barnsteiner/Felix Müller (Übersetzung und Bearbeitung): Saving Private Lynch http://www.welt.de/print-welt/article576547/Saving__Private_Lynch.html (abgerufen am 16.1.2018)

Florian Heiser: Das Hollywood-Heldendrama im Irak http://www.heise.de/tp/r4/artikel/14/14621/1.html (abgerufen am 16.1.2018)

July Hyland: Die inszenierte Rettung der Soldatin Jessica Lynch. Aktualisiert am 28.5. 2003. URL:http://www.wsws.org/de/2003/mai2003/lync-m28.shtml (abgerufen am 16.1.2018)

Stephanie Prause (2004): Jessica Lynch: Gerettete in der Not oder Retterin in der Not? Politikdarstellung für die Medien. Münster: LIT Verlag.

Wikipedia: Jessica Lynch. http://de.wikipedia.org/wiki/Jessica_Lynch  http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Jessica_Lynch&oldid=72514322 (Abgerufen am 16.1.2018)

Bildquelle:

flickr.com (abgerufen am 16.1.2018)