Die Bäume von Dhuluaya

Kurz nach der Besatzung des Irak wurden viele Palmen „aus Sicherheitsgründen“ gefällt. Der Tod einer Palme wird im Irak sehr ernst genommen. Für einen Bauern stellt er eine Katastrophe dar und er nimmt den Verlust persönlich. Jeder Baum ist so einzigartig, dass er wie ein Familienmitglied wahrgenommen wird. Die bekannte Bagdader Bloggerin Riverbend schreibt darüber ausführlich in ihrem Blog.

„Montag, 13. Oktober 2003.
Alle haben sich darüber gewundert, dass sie die Bäume in Dhuluaya abholzen. Dhuluaya, eine Gegend bei Samarra, liegt nördlich von Bagdad. Die Gegend ist bekannt für ihre wunderschönen Dattelpalmen, Zitrusbäume und Weinstöcke. Die Mehrheit der Menschen in dieser Region sind einfache Landbesitzer, die seit Jahrzehnten von den Erträgen ihrer Obstplantagen leben.
In vielen irakischen Landstrichen, besonders im Zentrum des Landes, wirken die Obstplantagen wie Oasen in der Wüste. Schon aus vielen Kilometern Entfernung kann man das leuchtende Grün der prächtigen Dattelpalmen durch Hitzewellen und Qualm hindurchschimmern sehen; sie strecken sich in den so gut wie nie bewölkten Himmel. Allein der Anblick der Plantagen vermittelt ein Gefühl der Ruhe.

500 verschiedene Palmenarten und 330 Dattelsorten

Im Irak gibt es über 500 verschiedene Palmenarten. Sie variieren von kleinen, gedrungenen Bäumchen mit wirren Kronen bis hin zu langen, schlanken Bäumen mit vollkommenen Blättern, die geradezu symmetrisch angeordnet scheinen. Die Palme heißt «nakhla» und weckt beim Betrachter fast immer Freude und Bewunderung. Die Palmen sind das Ein und Alles der irakischen Bauern und Landbesitzer. Ein Garten ist erst dann perfekt, wenn ihn eine Palme ziert. Wir beschreiben die Lage eines Hauses, indem wir zunächst das Viertel und dann die Straße benennen, und dann: «Also, es ist das vierte … nein, warte mal … das fünfte Haus auf der linken Seite … oder war es rechts? Ach, egal – es ist das Haus mit der großen Palme davor.»
Abgesehen davon, dass die Palmen wunderhübsch aussehen, sind sie sehr nützlich. Im Winter sind sie die Zuflucht der exotischen Vögel, die in Schwärmen in den Irak kommen. Wir entdecken oft verschiedene Vogelarten, die zusammen auf den Blattstängeln hocken, die süßen Datteln anpicken und die kleinen Jungs unten am Boden verspotten, die nicht an die Früchte herankommen. In den Sommermonaten wachsen an einer weiblichen Dattelpalme Hunderte von Datteln, die man sofort essen, einlagern oder auch weiterverarbeiten kann.
Im Irak gibt es über 300 Dattelsorten, und jede hat einen eigenen Namen und ist von eigener Textur und eigenem Geschmack. Manche sind dunkelbraun und weich, andere knallgelb und knackig und mit einem Beigeschmack, den nur Datteln haben. Es ist ziemlich schwierig, keine Datteln zu mögen – wenn einem eine bestimmte Sorte nicht schmeckt ist unter den vielen weiteren Sorten garantiert die richtige dabei. Aus Datteln wird auch «dibiss» hergestellt, ein dunkler, zäher Sirup. In manchen Gegenden isst man ihn mit Reis, in anderen auf Butterbrot. In vielen irakischen Süßigkeiten ist er der hauptsächliche Zuckeranteil.
Auch der irakische «khal», ein Essig, wird aus Datteln hergestellt … er ist dunkel und scharf, und gemischt mit Olivenöl ergibt er ein perfektes Dressing für einen frischen Tomaten-Gurken-Salat. Der irakische «areg», ein Getränk mit sehr hohem Alkoholgehalt, wird ebenfalls oft aus Datteln gemacht. Im Sommer tauschen Familien mit dem Enthusiasmus stolzer Eltern, die ein begabtes Kind vorzeigen, ihre Datteln körbe- und tablettweise aus – so kommen auch Nachbarn und Freunde in den Genuss, die auf dem eigenen Baum gewachsenen Früchte zu probieren …
Jeder Teil einer Palme ist wertvoll. Aus den getrockneten Blättern und Wedeln werden hübsche blassgelbe Körbe, Besen, Matten, Taschen, Hüte und Wandteppiche hergestellt, man kann sogar Dächer mit ihnen decken. Das Ende der Palmwedel ist oft verholzt, und aus diesen dicken, schweren Stücken schnitzt man hübsche, zerbrechlich wirkende Möbel- ähnlich den Bambussesseln und -tischen im Fernen Osten. Die Datteln von minderer Qualität sowie die Kerne gibt man Schafen und Kühen als Tierfutter zu fressen. Aus manchen Dattelkernen wird eine Art «Dattelöl» gewonnen, das man zum Kochen verwenden kann. Wenn die Palme gefällt wird, benutzt man sie als Feuerholz oder zum Häuserbau. Ich verwende die Dattelkerne am liebsten als Perlen. Jeder Kern wird von Hand geglättet und poliert und dann in der Mitte durchstochen. Man kann aus den Kernen Halsketten, Gürtel und Rosenkränze basteln. Das fertige Produkt wirkt einfach und trotzdem anmutig und es ist ein absolutes Einzelstück.

Palmen sind Schattenspender

In den Obstplantagen setzt man Palmen gern neben die Zitrusbäume, und das nicht nur aus dekorativen oder platztechnischen Gründen. Die Palmen überragen alle anderen Bäume und spenden den Zitrusgewächsen, die sonst in der irakischen Sonne verdorren müssten, Schatten. Abhängig von der Sorte wächst eine Palme durchschnittlich fünf bis zehn Jahre bis sie ihre volle Größe erreicht hat (manche Arten hören nie auf zu wachsen); nach durchschnittlich fünf bis sieben Jahren tragen die meisten Palmen Früchte.
Der Tod einer Palme wird sehr ernst genommen. Für einen Bauern stellt er eine Katastrophe dar und er nimmt den Verlust persönlich. Jeder Baum ist so einzigartig, dass er wie ein Familienmitglied wahrgenommen wird … Ich weiß noch, wie ich, wenige Tage nachdem die Bombardierungen begonnen hatten, Kriegsszenen im Fernsehen sah – ein Bild ist mir besonders in Erinnerung geblieben, das Bild einer umgeknickten Palme, deren majestätische Wedel nun auf dem Boden lagen und vor sich hin welkten. Der Anblick hat mich beinahe ebenso stark berührt wie die Bilder der Leichen.
In der Geschichte hat die Palme immer die wilde, stoische Schönheit des Irak und seiner Menschen verkörpert. Sie erinnert uns daran, dass es selbst in den schwierigsten Zeiten Hoffnung auf Leben und neues Wachstum gibt. Erhaben und unbeirrbar haben die Palmen über den Obstplantagen gethront, ungeachtet der Hitze, der politischen Zwistigkeiten, der Kriege … bis heute.
Die «shari il mattar» oder Flughafenstraße ist eine der bekanntesten Straßen Bagdads. Genau genommen besteht sie aus zwei Straßen – eine führt zum Flughafen, die andere vom Flughafen in die Stadt. Die Straße ist einfach und schmucklos. Das Großartige an ihr waren die Palmen, die zu beiden Seiten und auf der Insel dazwischen standen. Vom Flughafen kommend nach Bagdad hineinzufahren und auf allen Seiten von Palmen umgeben zu sein, erinnerte einen daran, dass man sich im Land der 30 Millionen Palmen befand.

Schlägerung aus Sicherheitsgründen

Kurz nach der Besatzung wurden viele der Palmen an dieser Straße von den Soldaten «aus Sicherheitsgründen» gefällt. Entsetzt mussten wir mit ansehen, wie sie umgehackt, davongeschleift und in Massengräbern braun und welkend aufgetürmt wurden. Diese Bäume waren schön, aber sie waren für niemanden lebensnotwendig. Anders als jene in Dhuluaya, über die Patrick Cockburn schreibt.
In Dhuluaya werden mehrere Obstplantagen abgeholzt … und nicht nur dort … auch in Bakuba, in den Außenbezirken von Bagdad und anderswo. Die Bäume werden umgerissen und von schweren Bulldozern überfahren. Wir sehen, wie Anwohner und die Betreiber der Plantagen die Soldaten anflehen, die Bäume zu verschonen, und wie sie abgeknickte Zweige, Blätter und – noch unreife – Früchte in die Höhe halten, der Boden unter ihnen bedeckt mit den grünen Überresten des Massakers. In den Gesichtern der Bauern ist Verzweiflung zu lesen und ungläubiges Staunen angesichts der Brutalität. Ich erinnere mich an einen Mann mit faltigem Gesicht, der vier noch grüne Orangen (die Zitrusfrüchte reifen bei uns im Winter) in den Händen hielt und in die Kamera schrie: «Ist das Freiheit? Ist das Demokratie?» Sein Sohn, etwa zehn Jahre alt, stand neben ihm. Ihm liefen Tränen der Wut übers Gesicht, und er sagte leise: «Für jeden gefällten Baum wollen wir fünf tote Soldaten sehen … fünf.» War er vielleicht ein «Terrorist»? Oder ein terrorisiertes Kind, das mit ansehen muss, wie die Zukunft seiner Familie im Namen von Demokratie und Freiheit in Stücke gehackt wird?“ (Bagdhad Burning, S. 138ff).

Quellen:

Riverbend. Bagdad Burning. Rohwolt Taschenbuchverlag. Reinbek bei Hamburg 2007.

http://riverbendblog.blogspot.com/ (abgerufen am 17.1.2018)

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