Kriegsdienstverweiger*innen und Deserteur*innen im Ukraine-Krieg

Im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Jahr 2022 wurde das Thema der Kriegsdienstverweigerer*innen und der Deserteur*innen wieder brandaktuell, da sich sowohl auf russischer als auch auf ukrainischer Seite immer wieder Menschen gegen eine persönliche militärische Involvierung stellten.

Auf der russischen Seite

Als der russische Präsident Wladimir Putin im September 2022 die Teilmobilmachung von 300.000 Reservist*innen verkündete, führte dies umgehend zu Protesten und Fluchtbewegungen. Des Weiteren wurde im selben Monat jedoch auch ein verschärftes Gesetz zur Desertion und Kriegsdienstverweigerung in Russland verabschiedet, wonach die Fahnenflucht in Zeiten der Mobilmachung oder des Kriegszustandes mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft wurde. Die gleiche Strafhöhe gilt auch schon bei einer bloßen Befehlsverweigerung.

Obwohl die Kriegsdienstverweigerung bzw. Desertion hiernach folglich hart bestraft wird, versuchen dennoch viele Männer im wehrfähigen Alter aus Russland zu fliehen. Dabei versuchten viele Russ*innen in Nachbarländer zu fliehen, wo sie ohne Visa einreisen können. Wenige Tage nach der Verkündung der Teilmobilmachung bildeten sich daher kilometerlange Staus an den Grenzen zu Georgien, Finnland, Kasachstan oder der Mongolei und auch Flüge in die Türkei waren schnell ausgebucht. Problematisch ist für viele russische Flüchtende jedoch, dass die Mehrheit von ihnen gar keinen Reisepass besitzt, die Reise generell mit finanziellen Hürden verbunden ist und auch nicht alle Nachbarländer sie willkommen aufnehmen (z.B. wurden dabei Sicherheitsbedenken formuliert, wonach sich beispielsweise Personen hierunter befinden könnten, die gar nicht gegen die russische Regierung seien bzw. keine demokratische Gesinnung hätten). Während einerseits auf europäischer Ebene nach einer gemeinsamen Lösung gesucht wird und die Aufnahmebereitschaft in einigen Staaten groß ist (z.B. Deutschland), so gibt es durchaus Staaten, die ihre Grenzen absichtlich geschlossen haben, wie etwa im Baltikum. So erklärte die estnische Premierministerin Kaja Kallas: „Wir gewähren russischen Männern, die aus ihrem Land fliehen, kein Asyl. Sie sollten gegen den Krieg kämpfen.“ ¹

Selbst wenn russischen Deserteur*innen und Kriegsdienstverweiger*innen die Flucht gelungen sein sollte, so gibt es erhebliche juristische Komplikationen. Denn so gilt, nach Einschätzung des britische Migrationsexperten Colin Yeo, dass (nach dem Handbuch der UN-Flüchtlingsorganisation) die bloße Angst vor Strafverfolgung aufgrund einer Desertion oder Kriegsdienstverweigerung alleine nicht für einen Schutzstatus ausreicht. Vielmehr müsse, so Yeo, glaubhaft gemacht werden, dass man ansonsten an Kriegsverbrechen teilnehmen hätte müssen, um einen Schutzanspruch gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu erhalten. Eine weitere rechtliche Herausforderung ist, dass für die Behörden oftmals ein schriftlicher Antrag (oder zu mindestens der Versuch einer Antragsstellung) auf Kriegsdienstverweigerung vorliegen muss – in Russland ist dies jedoch für Reservist*innen von vornhinein ausgeschlossen.

Auf der ukrainischen Seite

Als Reaktion auf die russische Teilmobilmachung verkündete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Russisch: „Protestiert. Kämpft. Lauft weg. Oder begebt Euch in ukrainische Kriegsgefangenschaft. Das sind die Varianten für Euch zu überleben.“ ²

Während Selenskyj folglich dafür geworben hat, dass die Russ*innen den Kriegsdienst verweigern sollten, so ist auch die ukrainische Seite selbst von dieser Thematik betroffen. Nachdem Selenskyj im Februar 2022 das Kriegsrecht ausrief, dürfen nämlich Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren nicht mehr legal das Land verlassen. Denn die Männer im wehrfähigen Alter sollen die Ukraine verteidigen und der Armee dabei zur Verfügung stehen. Jedoch gibt es auch in der Ukraine Männer, die sich dem Kriegsdienst verweigern. Diese Personen versuchen in andere europäische (Nachbar-)Länder zu fliehen. Als Beispiel gilt etwa die grüne Grenze in Rumänien, wo ukrainische Fahnenflüchtige teilweise ihr Leben riskieren, um dem Krieg zu entkommen (so ertrinken etwa einige ukrainische Männer bei der Überquerung des Grenzflusses Theiß).

Diejenigen, denen die Flucht gelingt, sind juristisch aufgrund der Massenzustrom-Richtlinie der EU erstmals in Sicherheit und erhalten vorübergehenden Schutz. Im Unterschied zu russischen (oder auch belarussischen) Deserteur*innen müssen sie daher nicht erst ein Asylverfahren durchlaufen, wo sie ihren Fall glaubhaft machen müssen. Eine rechtliche Problematik ergibt sich jedoch, wenn die Regelung ausläuft oder der Krieg beendet worden ist. Denn schließlich gilt Desertion rechtlich als Straftat und wird auch nach Kriegsende juristisch verfolgt und bestraft. Im Falle der Ukraine ist dieser Umstand nicht unrelevant, denn schließlich haben dort nur wenige religiöse Gruppen ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung – die Mehrheit der Ukrainer ist von solch einer Ausnahmeregelung folglich nicht betroffen (schon im Jahr 2022 wurden ukrainische Männer zu mehreren Jahren Haft wegen Kriegsdienstverweigerung verurteilt). Hinzu kommt, dass es, wie oben bereits beschrieben, kein allgemeines Recht auf Asyl aufgrund einer Kriegsdienstverweigerung gibt. Ausnahme bildet dabei nur die sonstige Verpflichtung zur Durchführung einer völkerrechtswidrigen Handlung. Von dieser Ausnahmeregelung sind jedoch in erster Linie russische Personen betroffen und nicht die Ukrainer*innen. Das hat zur Folge, dass bei dieser rechtlichen Gestaltung die ukrainischen Deserteur*innen und Kriegsdienstverweiger*innen (bei Aussetzung der Massenzustrom-Richtlinie) kein Recht auf Asyl hätten, so Gisela Seidler, die eine Fachanwältin für Migrationsrecht ist.

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht

Seit 1987 gilt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, laut der UN, als Menschenrecht, welches in einem wegweisenden Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Jahr 2011 ebenfalls festgehalten wurde (nähere Informationen zur allgemeinen rechtlichen Lage). Jedoch scheitert der Schutz von Deserteur*innen und Kriegsdienstverweiger*innen in der EU in der Praxis immer wieder, wie sich im Falle von ukrainischen, russischen und belarussischen Personen zeigt. Daher startete im Juni 2022 eine europaweite Kampagne unter dem Titel „Object War Campaign“, die Unterstützung von mehr als 60 Menschenrechts- und Friedensorganisationen aus über 20 europäischen Ländern erhielt. Hauptziel dieser Kampagne ist es, dass in der Europäischen Union Personen zukünftig aufgrund einer Kriegsdienstverweigerung oder Desertion generell immer Asyl gewährt wird (und nicht erst in dem spezifischen Ausnahmefall, wenn die betreffende Person ansonsten ein Kriegsverbrechen begangen hätte).

(red) (Stand: November 2022)


Links und Lesetipps

Asmuth, Gereon (2022). Deserteure in der Ukraine. Das Recht, Nein zu sagen (abgerufen am 14.10.2022)

Barth, Florian/ Şenyurt, Ahmet (2022). Grenze zu Rumänien. Wo Männer aus der Ukraine fliehen (abgerufen am 14.10.2022)

Connection e.V. (2022). „Meine Familie unterstützt mich“. Interview mit Maksim Gaidukov, Kriegsdienstverweigerer aus Russland (abgerufen am 30.10.2022)

Connection e.V. (2022). „Es gibt nichts worauf man stolz sein könnte“. Interview mit Mark Romankov, Kriegsdienstverweigerer aus Russland (abgerufen am 30.10.2022)

Connection e.V. (2022). „Für mich gibt es da keinen Kompromiss“. Interview mit Ilja Owtscharenko, Kriegsdienstverweigerer aus der Ukraine (abgerufen am 30.10.2022)

Connection e.V. (2022). Ein Belarusse flüchtet aus dem Kriegsdienst nach Westeuropa. Interview mit Vlad: „Die beste Lösung besteht darin, der Hölle zu entfliehen“ (abgerufen am 30.10.2022)

Connection e.V. (2022). Kriegsbedingte Emigration aus Belarus – ein Bericht von Nash Dom. Interview mit Igor: „Alles fallen lassen und flüchten“(abgerufen am 30.10.2022)

Das Erste (2022). Georgien: Russische Deserteure (abgerufen am 14.10.2022)

Die Welt (2022). Ukraine-Krieg. Politiker fordern europäisches Asylprogramm für russische Deserteure (abgerufen am 14.10.2022)

Friedrich, Rudi (2022). Schutz und Asyl bei Kriegsdienstverweigerung und Desertion in Zeiten des Ukraine-Krieges (abgerufen am 14.10.2022)

Friedrich, Rudi (2022). Flucht vor der Beteiligung am Krieg. Zahlen zu Russland, Belarus und Ukraine (abgerufen am 17.10.2022)

Hille, Peter/Witting, Volker (2022). Teilmobilmachung in Russland. Asyl in Deutschland für Deserteure aus Russland? (abgerufen am 14.10.2022)

Horaczek, Nina (2022). Der Bub, der kein Soldat sein wollte – FALTER.maily #876 (abgerufen am 14.10.2022)

IFOR/WRI/EBCO/Connection e.V. (2022). Russland, Belarus, Ukraine: Schutz und Asyl für Deserteure und Verweigerer (abgerufen am 30.10.2022)

Lohoff, Hanna (2022). Bekommen ukrainische Kriegsdienstverweigerer Asyl in Deutschland? (abgerufen am 14.10.2022)

ORF (2022). Gesetz über härtere Strafen für Deserteure in Russland (abgerufen am 14.10.2022)

Pieper, Oliver (2022). Russlands Krieg in der Ukraine. Ukrainer in Deutschland gegen Asyl für russische Deserteure (abgerufen am 14.10.2022)

Pucher, Johannes/Prugger, Daniela (2022). Kriegsdienstverweigerer im Ukraine-Krieg: Wenn Soldaten vor dem Einsatz flüchten (abgerufen am 14.10.2022)

Sawicki, Peter (2022). Kommentar: Flucht vor Kriegsdienst. Großzügiges Asyl für russische Deserteure ist der falsche Ansatz (abgerufen am 14.10.2022)

Von Bebenburg, Pitt (2022). Könnte Kriegsdienstverweigerung den Ukraine-Krieg beenden? (abgerufen am 14.10.2022)

War Resisters‘ International (2022). Interview with Mark Romankov, conscientious objector from Russia (abgerufen am 17.10.2022)

Wesel, Barbara (2022). Russlands Krieg in der Ukraine. Was tut die EU für russische Deserteure? (abgerufen am 14.10.2022)

You Move Europe (2022). Russland, Belarus, Ukraine: Schutz und Asyl für Deserteure und Verweigerer (abgerufen am 17.10.2022)

 

Quellen:

Asmuth, Gereon (2022). Deserteure in der Ukraine. Das Recht, Nein zu sagen (abgerufen am 14.10.2022)

Barth, Florian/ Şenyurt, Ahmet (2022). Grenze zu Rumänien. Wo Männer aus der Ukraine fliehen (abgerufen am 14.10.2022)

Das Erste (2022). Georgien: Russische Deserteure (abgerufen am 14.10.2022)

Die Welt (2022). Ukraine-Krieg. Politiker fordern europäisches Asylprogramm für russische Deserteure (abgerufen am 14.10.2022)

Euronews (2022). Bis zu 15 Jahre Haft: Russland erhöht nach „Teilmobilmachung“ Strafen für Deserteure (abgerufen am 14.10.2022)

Eurotopics (2022). Russische Deserteure: In Europa willkommen? (abgerufen am 14.10.2022)

Friedrich, Rudi (2022). Schutz und Asyl bei Kriegsdienstverweigerung und Desertion in Zeiten des Ukraine-Krieges (abgerufen am 14.10.2022)

Friedrich, Rudi (2022). Flucht vor der Beteiligung am Krieg. Zahlen zu Russland, Belarus und Ukraine (abgerufen am 17.10.2022)

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Horaczek, Nina (2022). Der Bub, der kein Soldat sein wollte – FALTER.maily #876 (abgerufen am 14.10.2022)

IFOR/WRI/EBCO/Connection e.V. (2022). Appell. Schutz und Asyl für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure aus den am Krieg in der Ukraine beteiligten Staaten (abgerufen am 30.10.2022)

Lohoff, Hanna (2022). Bekommen ukrainische Kriegsdienstverweigerer Asyl in Deutschland? (abgerufen am 14.10.2022)

ORF (2022). Gesetz über härtere Strafen für Deserteure in Russland (abgerufen am 14.10.2022)

Pieper, Oliver (2022). Russlands Krieg in der Ukraine. Ukrainer in Deutschland gegen Asyl für russische Deserteure (abgerufen am 14.10.2022)

Pucher, Johannes/Prugger, Daniela (2022). Kriegsdienstverweigerer im Ukraine-Krieg: Wenn Soldaten vor dem Einsatz flüchten (abgerufen am 14.10.2022)

Sawicki, Peter (2022). Kommentar: Flucht vor Kriegsdienst. Großzügiges Asyl für russische Deserteure ist der falsche Ansatz (abgerufen am 14.10.2022)

Tagesschau (2022). Krieg gegen die Ukraine. „Protestiert. Kämpft. Lauft weg.“ (abgerufen am 14.10.2022)

Von Bebenburg, Pitt (2022). Könnte Kriegsdienstverweigerung den Ukraine-Krieg beenden? (abgerufen am 14.10.2022)

Wesel, Barbara (2022). Russlands Krieg in der Ukraine. Was tut die EU für russische Deserteure? (abgerufen am 14.10.2022)

 

Fußnoten:

¹ Kallas, Kaja (2022), zit. aus dem Englischen in: Wesel, Barbara (2022). Russlands Krieg in der Ukraine. Was tut die EU für russische Deserteure? (abgerufen am 14.10.2022)

² Selenskyj, Wolodymyr (2022), zit. in: Tagesschau (2022). Krieg gegen die Ukraine. „Protestiert. Kämpft. Lauft weg.“ (abgerufen am 14.10.2022)